Mixed Reality Skulpturen
Was ist real, was ist echt? Wie „interpretiert“ ein Algorithmus eigentlich dreidimensional-räumliche Objekte? Welche Zukunftswünsche habe ich für unser Zusammenleben und unsere Erde? Wie sieht eine dazu passende (virtuelle) Wunschwelt aus? Diese Fragen haben wir gemeinsam mit Kindern spielerisch-forschend erkundet, diskutiert und gestalterisch-handelnd sichtbar gemacht.
Entstanden sind Mixed Reality Skulpturen in virtuellen 3D-Welten. Das bedeutet, dass die „anfassbare, echte“ Welt mit virtuellen Objekten erweitert und vermischt wurde – also ein „gemixter“, erweiterter Erlebnisraum entstand. Umgesetzt haben wir das konkret mit selbst-gefalteten Origami-Kranichen, welche in Japan als Symbol für Glück und Frieden stehen. Wenn tausend Kraniche gefaltet werden, hat man einen Wunsch frei. Anhand dieser Legende haben die Kinder eigene Wünsche für sich und ihre Zukunft formuliert. Diese Kraniche wurden per 3D-Scan in virtuelle Objekte umgewandelt und in eine selbst gebaute 3D-Wunsch-Welt eingesetzt.
Projektziele
Ziele 1: Ästhetische Bildung
Sowohl sinnlich-haptisch (mit Papier, Stempeln und Falten) als auch digital-immersiv (3D Objekte erstellen, Welten bauen) sollten kreativ-ästhetische Erfahrungen angeregt, sowie das (räumliche) Vorstellungsvermögen der Kinder erweitert werden. Die Verfahren und Techniken verändern sich je nach Medium, was also unterscheidet das „Echte-Reale“ von „vorgestellten“ Objekten und Räumen? Schwerpunkte waren daher (Raum-)Wahrnehmungen und Erfahrungen mit Mixed Reality: „Sich die Welt selbst entdecken, hinterfragen, und forschend-handelnd eigene kulturell-soziale (virtuelle) Räume gestalten und zur Wirklichkeit erwecken.“
Ziele 2: Partizipation und politische Bildung
Je nach Interesse, Anlass und Motivation der Kinder wurden mögliche Wünsche der Origami-Skulpturen gemeinsam überlegt: Was ist wichtig für unsere Gesellschaft, für unsere Zukunft? Wie wollen wir zusammenleben? Was soll bleiben, was soll sich ändern? Ziel war es vor allem erste politische Überlegungen auf der Basis eigener Wunschvorstellungen zu entwerfen: was bewegt mich? Wie positioniere ich mich? Wie kann ich meine Meinung mit einem gestalterischen Objekt anstatt sprachlich ausdrücken?
Ziele 3: Medienbildung
Im Sinne der aktiven und handlungsorientierten Medienarbeit sollen in der Produktion von eigenen Werken Grundlagen für Reflexion und kritische Auseinandersetzung mit medialen Themen der heutigen Lebenswelt geschaffen werden. Mixed Reality mit seinen Polen VR und AR wird immer präsenter und allgegenwärtiger. Leitfragen dabei sind: Wie funktioniert die Technik (Medienkunde)? Wie kann ich sie benutzen und für mich selbst gestalten (Mediennutzung und -gestaltung)? Was sind Gefahren und Potentiale im Umgang mit neuen Technologien (Medienkritik)?
Gruppe, Technik und Zeit
Wir haben mit insgesamt 50 Kindern einer Münchner Grundschule gearbeitet. Begleitet wurde das Projekt auch von einem Kurs Studierender der Kunstpädagogik an der LMU München (Digitale Kunstwerkstatt, SoSe2019). Die Schüler*innen der Grundschule standen am Ende der 4.Klasse vor weitreichenden Veränderungen: Schulwechsel, neue Peers, neue Umgebung stehen bevor. Daher war die Motivation bezüglich Zukunft und Wünsche entsprechend hoch.
Wir arbeiteten mit Samsung Tablets (Android, AR-fähig) und Laptops (Windows 7, Firefox-Browser), unterschiedlich farbigen und gemusterten Papieren, Stempeln und Stiften. Benutzte Apps waren „Qlone“ (3D-Scan von Objekten, für iOS & Android) und „CoSpaces Edu“ (3D Welten gestalten, für iOS, Android sowie als Web-App). „CoSpaces Edu“ braucht eine stabile, dauerhafte Internetverbindung bzw. WLAN.
Das Projekt wurde an drei Schulvormittagen durchgeführt.
Projektablauf und Ergebnisse
Phase 1: Mein Wunsch an die Zukunft – Gestalten von Papier-Kranichen
Zunächst wurde die Geschichte des Mädchens Sadako erzählt, welche am Ende des zweiten Weltkriegs in Hiroshima an Leukämie erkrankte und versuchte sich und die Welt durch das Falten von Origami-Kranichen zu heilen. Anhand des Wunsches von Sadako nach Frieden und Gesundheit haben wir gemeinsam überlegt, was den Kindern heute wichtig ist und was sie sich wünschen.
Darauf aufbauend gestalteten die Kinder mit analogen Materialien (Papier, Stifte, Stempelformen) einen eigenen Origami-Kranich. Beabsichtigt war, dass dies zu dem entsprechenden Wunsch passte. Der Wunsch wurde dem Papier-Kranich (entweder geheim oder offen) auf die Flügel geschrieben. Beispielweise wurde ein Kranich mit Wunsch nach „Schutz von Tieren und besonders Orang-Utans, wegen dem Palmöl“ mit einem Fellmuster gefaltet, ein Glückskranich aus gelb-goldenem Papier erstellt, sowie viele grüne Kraniche mit Blattmusterungen für Wald- und Klimaschutz-wünsche verwendet.
Phase 2: Verwandlung – 3D-Scan der Origami-Kraniche
Zweiter Schritt war die Verwandlung des Papierkranichs in ein digitales 3D-Objekt. Die Kinder verwendeten mit ihren Tablets die App „Qlone“, welche mit einem Photogrammmetrie-Verfahren aus Einzelbildern eine 3D-Figur erstellt. Das funktioniert mit einer eigens gerasterten Unterlage und einer virtuellen ‚Kuppel‘, welche nach und nach von Blau auf Durchsichtig wechselt, während der Algorithmus der App im Hintergrund Einzelbilder zu einem 3D-Objekt umrechnet. Die entstandenen Objekte haben wir als .obj Dateien mit Texturen exportiert. Dieses Verfahren wird mit Laser-Scans auch bei Ausgrabungen und zur Digitalisierung von Museumsstücken verwendet. Es ist für Kinder ein guter Einblick in das Entstehen von virtuellen Figuren, welche sonst meist nur aus Computerspielen oder Animationsfilmen bekannt sind.
Phase 3: Was ist echt? Gemeinsame Besprechung und Vertiefung
In einer ersten Besprechung überlegten wir, wie sich „echt“ von „virtuell“ unterscheidet und wie die App „Qlone“ die Kraniche anders als unsere menschliche Wahrnehmung interpretiert. Die Kinder waren durchweg erstaunt oder teils auch entsetzt über die Verwandlung ihrer Papier-Kraniche: Sie wirkten sonderbar aufgeblasen und organisch, im Unterschied zu den ursprünglich geometrisch-flachen Formen. Sie taten sich schwer damit, die Veränderungen in konkrete Beschreibungen jenseits von „komisch“ oder „anders“ zu fassen. Technisch gesehen erkannten sie zugleich, dass es von Lichtverhältnissen und Schatteneinfall sowie von ruhiger Kameraführung beim Scannen abhängt, wie genau die virtuellen Kraniche dem Original gleichen. Es wurde ihnen auch klarer, dass ein Tablet nicht „sieht“ oder „denkt“ wie Menschen, und daher das Ergebnis immer eine erkennbar mit Fehlern behaftete Interpretation darstellt – was bei uns Menschen wahrnehmungsbezogen allerdings auch so ist.
Eine mögliche Erweiterung, insbesondere in höheren Klassenstufen, wäre an dieser Stelle eine Überarbeitung der 3D-Kraniche mit der Web-App „TinkerCAD“. Damit können 3D-Objekte erstellt, verändert oder auch zum 3D-Druck vorbereitet werden.
Phase 4: Wunschwelten – virtuelle Welt entwickeln und bauen
In der nächsten Phase überlegten wir, wie eine Welt aussehen könnte, in welche der nun virtuelle Kranich fliegt, um den Wunsch in Erfüllung gehen zu lassen. Viele der Schülerinnen und Schüler wollten gerne gemeinsame Welten gestalten; vor allem dort, wo sich Wünsche ähnelten. Daher war auch die Ideensammlung entsprechend lebhaft und vielfältig. Beispielsweise war einer Gruppe nur klar, dass sie „etwas mit Meer“ machen wollten. Weitere Kinder brachten sowohl sauberes Wasser, Plastikmüll, sterbende Fische, Klimaerwärmung, aber auch Tauchen und Strandurlaub als Themen mit ein. Diese Gruppe entschied sich letztlich im Sinne der Wunscherfüllung für die Darstellung eines „gesunden“ Meeres – voller Tiere, Pflanzen in klarem Wasser. Anderen Kindern war das gesellschaftliche Zusammenleben in Familien wichtig, sie gestalteten eine Welt, in welcher alle Geschöpfe in Familien und Gruppen zusammenstanden, keiner sollte allein gelassen werden. Viele der Welten hatten Wälder als Thema, entweder als CO2-Umwandler für Klimaschutz oder als Lebensraum für Tiere. Besonders geschützt wurde ein Wald von einem Bataillon aus Kriegern mit Schutztürmen.
Zum Bau der 3D-Welten verwendeten wir die App „CoSpaces Edu“, welche sowohl auf Tablets, als auch Laptops mit WLAN läuft. Die Lehrperson kann eine Klasse anlegen und mit einem Code Schüler*innen einladen. Diese brauchen zwar einen eigenen Account, aber keine Emailadresse. Die 3D-Kraniche (.obj Datei mit Texturen) hatten wir bereits hochgeladen, sodass die Kinder in ihren Welten darauf Zugriff hatten. Den Umgang und Exploration der App CoSpaces hatten wir recht offengelassen und nur auf Nachfrage und bei offensichtlichen Schwierigkeiten helfend eingegriffen. So war auch hier eine rege Kommunikation und Austausch zwischen den Kindern beobachtbar. Die App hat mehrere Funktionen: es können eigene Objekte (z.B. die 3D-Scan Kraniche) hochgeladen werden, es gibt aber auch eine große Bibliothek an vorgefertigten Objekten, Figuren, Tieren und geometrischen Bausteinen. Die Objekte können farblich verändert, verschoben, rotiert, skaliert, dupliziert, animiert und Aktionen programmiert werden. Die 3D-Umgebungen können vom Licht her verändert werden (sonnig, wolkig, nachts) und entweder eigene 360° Panoramas oder vorgefertigte Szenerien darstellen.
Phase 5: Nachdenken über Wünsche und Welten – Präsentation und Reflexion
Im Anschluss an das Erstellen der Welten wurden diese den anderen Kindern vorgestellt und gemeinsam besprochen. Die Kinder hätten gerne mehr Zeit für die Gestaltung gehabt. Im Eifer des Arbeitens rückten manchmal der ursprüngliche Gedanke und der Bezug zum Kranich in den Hintergrund. Insgesamt jedoch sind viele differenzierte und gut erklärte Wunschwelten entstanden, welche die Vorstellungen der Kinder deutlich zeigten. Auch der Technik gegenüber waren die Kinder sachlich und reflektiert eingestellt. Allerdings hatten beide Klassen bislang kaum mit digitalen Medien in der Schule gearbeitet, vor allem noch nie im kreativen Bereich. Daher waren sie schnell fasziniert und äußerst enthusiastisch. Bei regelmäßigerem Einsatz wären solche ersten Hype-Effekte weniger stark.
Fazit
Das Projekt ist ein explorativer Einstieg in die Themenbereiche „Skulptur und Raum“, „Wünschen und Brauchen“, sowie „Zukunft, Utopien und Gesellschaft“. Somit geht es auch um die Fragen: „In welcher Wirklichkeit leben wir? Und in welcher Welt wollen wir leben?“
Das Vorhaben benötigte eine intensive inhaltliche und zeitliche Erarbeitung. Wir hatten vor allem im zweiten Teil bemerkt, dass zunächst eine freie Exploration der App „CoSpaces Edu“ sinnvoll gewesen wäre. Erst als die Handhabung und Inhalte der App bekannt waren, konnten sich die Kinder auf den Bau ihrer Wunschwelt konzentrieren.
Das Projekt zeigt vielversprechende Einsatzmöglichkeiten für die Mischung von analogem bildnerisch-kreativem Gestalten und digitalen Technologien, die beide Bereiche gleichberechtigt beinhalten.
Anmerkungen
Das hier beschriebene Origami-Kranich-Projekt wurde von Laura Zimmer und Vesa Spahiu, zwei Lehramtsstudierenden der Ludwig-Maximilians-Universität München innerhalb des Seminars „Digitale Kunstwerkstatt“ (2019, Kunstpädagogik, LMU München) mit unserer Hilfe vorbereitet und mit Unterstützung an der Grundschule innerhalb einer Medienwoche durchgeführt.
Projektleiterinnen: Tina Kothe, Franziska Gast und Marlene Pruss